Hexenprozesse in Kurmainz

Zwischen „weisen Frauen“ und Antisemitismus: Die „romantische“ und die „völkische“ Rezeption der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung

von Sebastian Hackel

Das Phänomen der Hexe und ihrer Verfolgung löst bis heute Faszination im Menschen aus. Nicht immer jedoch waren die unzähligen darüber entstandenen Schriften so nüchtern und qualitativ hochwertig, wie wir dies heute von der modernen Geschichtswissenschaft gewohnt sind. Der Diskurs über Hexen und Magie war nach den großen Verfolgungswellen der frühen Neuzeit immer mehr oder weniger in Gesellschaft und Literatur verankert und diente den unterschiedlichsten Zwecken. Das „lange“ 19. Jahrhundert und die Zeit der Weimarer Republik brachten dabei eine Gemengelage an Literatur hervor, in der sich romantische und rationalistische mit rassistischen Ansichten und handfestem Antisemitismus verbanden. Dieser Spur soll im Folgenden am Beispiel wichtiger Autorinnen und Autoren nachgegangen werden.

Bereits kurz nach der Hochphase der europäischen Hexenverfolgungen veröffentlichte der „Vater“ der deutschen Aufklärung, Christian Thomasius (1655–1728) im Jahre 1701 eine kritische Abhandlung, „De crimine magiae“, zum Thema. Er stellte im bislang erschienenen Schrifttum der gängigen Hexenlehre „allerhand Fabeln von Zauberern und Hexen“ (Thomasius 1987: 37) fest, denunzierte also gewissermaßen den Hexenglauben als „Gelehrtenwahn“. Dieser Ansatz, die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen zu interpretieren, wurde auch von Wilhelm Gottlieb Soldan (1803–1869) vertreten. Mit seiner „Geschichte der Hexenprocesse“ schuf er 1843 das Standardwerk des in der Geschichtsforschung der 1970er Jahre etablierten rationalistischen Paradigmas.

Jacob Grimm (4. Januar 1785 – 20. September 1863)[Bild: Public Domain]

Daneben wurde ein „romantischer“ Ansatz nach Jacob Grimm (1785–1863) identifiziert. Seine 1835 erschienene „Deutsche Mythologie“ vertrat in Bezug auf Hexen die These, es habe im germanischen Heidentum „weise Frauen“ gegeben, die sich auf „Weissagung und zauber“ verstanden hätten (Grimm 1968, III: 113). Grimm war der Ansicht, alte heidnische Bräuche und Vorstellungen der Germanen seien vom Christentum aufgenommen und neu interpretiert worden (vgl. Wiedemann 2006: 63f.). Bei den als Hexen verbrannten Frauen habe es sich um „ehemalige göttinnen“ gehandelt, welche durch die christliche Kirche „von ihrem stul gestürzt, aus gütigen, angebeteten wesen in feindliche, gefürchtete verwandelt“ worden seien (Grimm 1968, II: 881).

Jules Michelet (21. August 1798 - 9. Februar 1874)[Bild: Public Domain]

Knapp drei Jahrzehnte später erlangte die romantisch geprägte Interpretationsweise auch in Frankreich Popularität. Stark durch Grimm beeinflusst, verfasste Jules Michelet (1798–1874) im Jahre 1862 „La sorcière“ („Die Hexe“). Auffallend an diesem Werk ist sein poetischer Stil, welcher mehr an einen Roman als an eine historische Abhandlung erinnert. Ähnlich wie Grimm machte Michelet die katholische Kirche für die Leiden der als Hexen verbrannten Frauen verantwortlich. Er stilisierte insbesondere die Frau des Leibeigenen zur Hüterin eines paganen Glaubens, einer Erinnerung an alte Gottheiten, die vor der Kirche geheim gehalten werden musste, denn Letztere habe derartige Vorstellungen stets verfolgt (Michelet 1989: 164f.). Charakteristisch für seine antiklerikale Position war der Vorwurf der Naturfeindschaft an die Kirche. Seit 1300 seien Heilmittel der Frau als Gifte angesehen und deren Anwendung dementsprechend unter Strafe gestellt worden (Ebd.: 209). Dabei sah Michelet die Hexe als „einzigen Arzt des Volkes“ an (Ebd.: 141). Zu ihr seien die Menschen gegangen, um ein Heilmittel oder ein Gift, die Abtreibung einer ungewollten Schwangerschaft oder das Überleben von Neugeborenen zu erbitten (Ebd.: 201). Aufgrund derartiger Aussagen gilt Michelet als Urheber des sogenannten Hebammen-Mythos (vgl. Wiedemann 2006: 80f.). Dieser ist zwar längst durch die Forschung widerlegt worden, tritt bedauerlicherweise dennoch bis heute vereinzelt in Presse und Literatur auf.

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Eine ideologisch zugespitzte Rezeption der Hexenverfolgungen erfolgte schließlich während der Zeit der Weimarer Republik in der völkischen Bewegung. Dabei zeigte sich eine erstaunliche und teils verwirrend skurrile Vermischung der „alten“ Interpretationsmuster, die letztlich stets als Argumentationshilfe für die Propagierung einer übergeordneten Ideologie dienen sollte. Die wohl bekannteste Autorin ist hier Mathilde Ludendorff (1877–1966). Die zweite Ehefrau des Weltkriegsgenerals Erich Ludendorff war studierte Ärztin und auf Psychiatrie spezialisiert, betätigte sich aber letztlich als Autorin und Begründerin einer neuheidnischen Gruppierung, die bis zum heutigen Tage existiert. Ludendorff interessierte sich früh für die Frauenbewegung, kombinierte jedoch schnell Feminismus mit völkisch-neuheidnischen Gedanken. So berief sie sich in ihrem 1917 erstmals erschienenen und später ideologisch zugespitzten Werk „Das Weib und seine Bestimmung“ auf das Idealbild der „Urzeiten germanischer Hochwertung des Weibes“, in der die Frau ein hohes Maß an religiöser Bedeutung gehabt habe. Durch die „Einführung der jüdischen Entmündigung des Weibes“ sei diese jedoch verloren gegangen (Ludendorff 1933b: 80). Mathilde Ludendorff vertrat eine radikal antisemitische gesellschaftliche Position, die sie hier mit der Forderung nach „ursprünglicher“ Gleichheit der Geschlechter verband: Die ursprungsmythologische Geschlechterordnung sei durch „jüdische Unterjochungsgesetze“ (Ebd.: 120) zerstört worden, daher müsse man nun den Idealzustand der tatkräftigen germanischen Frau wiederherstellen, wie es schon von Tacitus' „Germania“ beschrieben worden sei (Ebd.: 118). Daneben sah Ludendorff auch die Edda als Zeugnis einer heidnischen Urreligion der „germanischen Rasse“ an. Durch ihre Beschreibung der eddischen „Nornen“ etwa, die sich morgens um die „Weltenesche“ kümmerten, damit ihre Blätter nicht verdorrten (Ebd.: 209), begab sie sich in die romantische Tradition, die wir bereits bei Grimm und Michelet erläutert haben.

Bezog sich Ludendorff jedoch explizit auf Hexenprozesse, hatten ihre Schriften mit romantischen Interpretationsmustern nur noch entfernt zu tun. Vielmehr vermischte sich nun rationalistischer Antiklerikalismus mit rassistisch-antisemitischen Motiven. Im Zuge ihres publizistischen Kampfes gegen „überstaatliche Mächte“, den sie gemeinsam mit ihrem Ehemann bestritt, bot sich das Thema der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen geradezu an. Im Jahre 1934 veröffentlichte Mathilde Ludendorff zusammen mit einem gewissen Walter Löhde (1890–1965) ein Pamphlet mit dem Titel „Christliche Grausamkeit an deutschen Frauen“. Dabei handelte es sich in erster Linie um stark antisemitisch zugespitzte antichristliche Propaganda. Darin hieß es etwa, die neun Millionen [sic!] ‚Hexen', die das Christentum auf dem Gewissen habe, seien das Produkt eines von den „Semiten Babylons“ ersonnenen Teufelsglaubens (Ludendorff 1939: 9). Paradigmatisch für ihre Argumentationsweise bediente sie sich nicht nur antisemitischer Verschwörungstheorien, sondern auch – ob aus Unwissenheit oder eher beabsichtigter Aufmerksamkeit – der aberwitzigen Zahl von neun Millionen Opfern. (Zur Richtigstellung dieses populären Mythos vgl. Behringer: Neun Millionen Hexen, sowie zur Richtigstellung weiterer populärer Irrtümer wie z. B. des Hebammen-Mythos vgl. Voltmer: Vom getrübten Blick.)

Mathilde Ludendorff entwickelte im Laufe der Jahre eine Philosophie, die sie „Deutsche Gotterkenntnis“ nannte. Es handelte sich hierbei um ein pseudowissenschaftliches Konstrukt, das sich von monotheistischen Religionen abzugrenzen suchte – also vom Juden- und Christentum. In ihrem Buch „Des Menschen Seele“ von 1933 formulierte sie als erstrebenswertes Ziel, der „Menschenseele artneue Zustände“ zu verschaffen, um möglichst „dauernde[s] Erleben der Gottbewußtheit“ zu erlangen. Dieser Vorgang wurde von ihr als „Selbstschöpfung“ bezeichnet (Ludendorff 1933: 27). Ihr gleichnamiges, 1927 erstmals erschienenes Werk ist nun im Zusammenhang mit einer Rezeption der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen interessant. Darin führte Ludendorff als Beispiel für Menschen mit negativer „Selbstschöpfung“ Inquisitoren an, die sich trotz „edlen Rasseerbgutes“ (es waren ja „Deutsche“) einer „tiefstehenden Fremdreligion“ geweiht hätten (Ludendorff 1937: 197–200). Zusätzlich zu ihrer Unterscheidung der „Gotterkenntnis“ der menschlichen Rassen in Licht- und Schachtbewohner (Ebd.: 21) passt ins skurrile Bild, was ihr Co-Autor Walter Löhde an anderer Stelle schrieb: Nur der „göttliche Wille zur Wahrheit“ der „Seelen wahrheitsliebender Forscher“ habe die Hexenverfolgungen beendet und die Menschheit von den „christlichen Wahnlehren“ erlöst (Löhde 1939: 20). Der propagandistische Zweck dieser schlicht unlogischen Konstruktion – die großen Verfolgungswellen gingen ca. 300 Jahre zuvor zu Ende, Ludendorffs „Philosophie“ existierte aber erst seit wenigen Jahren – lag wohl in einfachem Pragmatismus: Das Hexenthema war reißerisch und garantierte trotz des Konkurrenzverhältnisses der Ludendorffs zur NSDAP und trotz des zwischenzeitlichen Verbots ihrer Kernorganisationen von 1933 bis 1937 hohe Auflagezahlen.

Ein besseres Verhältnis zu ranghohen Vertretern und Nahestehenden des NS-Regimes hatte Friederike Müller-Reimerdes, die mit ihrem Traktat „Der christliche Hexenwahn. Gedanken zum religiösen Freiheitskampf der deutschen Frau“ von 1935 das wohl radikalste Beispiel einer völkischen Feministin darstellte. Über ihr Leben ist nicht viel bekannt. Allerdings weiß man, dass sie sich im Umfeld des Nordisten Bernhard Kummer befand und in dessen Zeitschrift „Nordische Stimmen“ publizierte. Zudem wurde ihr Werk auf einer 1939 veranstalteten Ausstellung mit dem Titel „Frau und Mutter – Lebensquell des Volkes“ von Alfred Rosenberg als ergänzende Lektüre empfohlen (Schier 1990: 58, 91). Müller-Reimerdes warf dem „deutschen Mann“ vor, sein „artgemäßes Heldentum, das einst nur gleichwertige Frauen ertragen konnte, mit orientalischem Mannestum“ vertauscht zu haben, was erst die Hexenverfolgungen in Deutschland ermöglicht habe (Müller-Reimerdes 1935: 17). Daran sei jedoch vor allem die christliche Kirche und ihre Teufelsvorstellung schuld, welche die Autorin als „Ausgeburten religiösen Wahnsinns“ bezeichnete (Ebd.: 14). Wie Ludendorff identifizierte sie „artfremde, orientalische Wurzeln“ des Christentums (Ebd.: 26) als tiefer liegenden Grund der von ihr beklagten Zustände. Dies verlieh ihrer radikal antiklerikalen Haltung zusätzlich eine radikal antisemitische Note. Müller-Reimerdes rief schlussendlich zum Kampf der „deutschen Frau“ gegen das „jüdische Patriachat“ und das „römisch-jüdische Christentum“ auf (Ebd.: 23, 63).

Während im 19. Jahrhundert rationalistische und romantische Interpretationsmuster der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen nebeneinander existierten und dabei vor allem Kritik an der Kirche und die Erinnerung an verloren geglaubte Mythologien zum Ziel hatten, kam es in der Zeit der Weimarer Republik zu einer auf den ersten Blick schwer durchschaubaren Gemengelage an Interpretationsmotiven. Feminismus und völkisches Gedankengut wurden dabei mit antiklerikalen, neureligiösen, rassistischen und antisemitischen Ideen angereichert. Die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen wurden in diesen Kreisen als Teil einer übergeordneten völkisch-nationalen Propaganda instrumentalisiert.

Verfasser: Sebastian Hackel

Quellen

  • Grimm, Jakob : Deutsche Mythologie. 3 Bde. Um eine Einleitung vermehrter Nachdruck der 4. Auflage, besorgt von Elard H. Meyer, Berlin 1875-78. Graz 1968.
  • Löhde, Walter: Verhaftung und Verhör. In: Ludendorff, Mathilde / Löhde, Walter: Christliche Grausamkeit an Deutschen Frauen. München 1939 (1934), S. 17–20.
  • Ludendorff, Mathilde: Des Menschen Seele. München 1933 (Der Seele Ursprung und Wesen, II. Teil).
  • Ludendorff, Mathilde: Das Weib und seine Bestimmung. Ein Beitrag zur Psychologie der Frau und zur Neuorientierung ihrer Pflichten. München 1933.
  • Ludendorff, Mathilde: Selbstschöpfung. München 1937 (1927) (Der Seele Ursprung und Wesen, 3. Teil).
  • Ludendorff, Mathilde / Löhde, Walter: Christliche Grausamkeit an Deutschen Frauen. München 1939 (1934).
  • Ludendorff, Mathilde: Hexenmarterung auch durch protestantische Geistliche. In: Ludendorff, Mathilde / Löhde, Walter: Christliche Grausamkeit an Deutschen Frauen. München 1939 (1934), S. 9–17.
  • Michelet, Jules: La sorcière. Nouvelle édition critique avec introduction, variantes et examen du manuscrit. Nijmegen 1989.
  • Müller-Reimerdes, Friederike: Der christliche Hexenwahn. Gedanken zum religiösen Freiheitskampf der deutschen Frau. Leipzig 1935 (Reden und Aufsätze zum nordischen Gedanken, Heft 26).
  • Soldan, Wilhelm Gottlieb: Geschichte der Hexenprocesse. Aus den Quellen dargestellt. Stuttgart, Tübingen 1843.
  • Thomasius, Christian: Vom Laster der Zauberei. Über die Hexenprozesse. De Crimine Magiae. Processus Inquisitorii contra Sagas. Weimar ²1987.

Literatur

  • Behringer, Wolfgang: Neun Millionen Hexen. Entstehung, Tradition und Kritik eines populären Mythos. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), S. 664-685.
  • Schier, Barbara: Hexenwahn und Hexenverfolgung. Rezeption und politische Zurichtung eines kulturwissenschaftlichen Themas im Dritten Reich. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1990, S. 43–115.
  • Voltmer, Rita: Vom getrübten Blick auf die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen – Versuch einer Klärung. 2006. URL: fowid.de/fileadmin/textarchiv/Voltmer_Rita/Hexenverfolgungen_TA2006_12.pdf (Letzter Zugriff: 30.03.2012).
  • Wiedemann, Felix: Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus. Würzburg 2007.

Weitere Literaturhinweise

  • Behringer, Wolfgang: Geschichte der Hexenforschung. In: Lorenz, Sönke / Schmidt, Jürgen Michael (Hrsg.): Wider alle Hexerei und Teufelswerk. Die europäische Hexenverfolgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland. Ostfildern 2004, S. 485–668.
  • Behringer, Wolgang: Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung. München, 5. Aufl. 2009.
  • Breuer, Stefan: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik. Darmstadt 2008.
  • Mildenberger, Florian: Erotik, Polygamie, Muttertum. Die Wandlungen der Mathilde Ludendorff. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 621-643.
  • Mohler, Armin / Weissmann, Karlheimz: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Graz 62005.
  • Puschner, Uwe / Großmann, Georg Ulrich (Hrsg.): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert. Darmstadt 2009 (Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, Band 29).
  • Schnoor, Frank: Mathilde Ludendorff und das Christentum. Eine radikal völkische Position in der Zeit der Weimarer Republik und des NS-Staates. Egelsbach 2001 (Deutsche Hochschulschriften, Band 1192).
  • Voltmer, Rita: Mythen, Phantasien und Paradigmen – Zu Deutungen der Hexenverfolgungen. In: Historisches Museum der Pfalz Speyer (Hrsg.): Hexen. Mythos und Wirklichkeit. Speyer 2009, S. 189–199.

Veröffentlicht: 13.06.2012

 
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